Tuesday, September 29, 2009

Offener Brief an meinen OV-Vorsitzenden

Weil ich noch nicht fertig gedacht habe, was die weitreichenden Konsequenzen des Bundestagswahl-Ergebnisses angeht, hier erst mal statt Blogpost eine spontane Mail an meinen Ortsvereinvorsitzenden:

"Lieber Uwe,

ich bin eine Freisinger Karteileiche, deren politisches Engagement
derzeit v.a. im und durch das Internet stattfindet
(vgl. zum Beispiel die Konferenz zu "Digitaler Demokratie"
http://www.reboot-d.de )

Den Aufruf "SPD erneuern" der Bundes-Jusos habe ich gerade unterzeichnet und möchte hiermit anregen, ihn auch in Freising zu
diskutieren. Ich glaube allerdings, dass der Text deutlich zu kurz
greift.

Mehr noch als an Personalfragen, Flügelkämpfen und wahltaktischen
Fragen bin ich aber interessiert an der lange überfälligen
Grundsatz-Diskussion über "Soziale Demokratie": Es ist ja so, dass
niemand mehr genau sagen kann, wie sie in den nächsten genau
Jahrzehnten aussehen kann und soll, nach dem Ende der
Wachstums-Gesellschaft. Diese Gesellschaft wird sich, ob wir wollen
oder nicht, in den nächsten 10 Jahren dramatisch verändern. Wir
sollten versuchen, das mitzugestalten.

Es reicht eben nicht mehr, freundlich weiterzuwursteln und das
Schlimmste zu verhindern, wie es uns Münte und FWS und die anderen lange eingeredet haben. Das geht weit hinaus über die alte, stereotype Rechts/Links-Flügel-Diskussion.

Eine solche Diskussion kann und darf nicht nur innerparteilich geführt
werden - die Partei muss damit nach außen gehen und dies als
gesellschaftliche Debatte anregen und moderieren. Daraus (und nur
daraus) könnte sie irgendwann auch wieder Kraft als Partei schöpfen.

Ein solcher Öffnungsprozess wird sich des Internet bedienen müssen:
die einzige Perspektive für eine Erneuerung des festgefahrenen
Politikbetriebs. Sollte es solche Bestrebungen im Kreis hier geben,
würde ich gerne mitmachen.

Wenn aber alles doch wieder in ratlosen "Aber wir leisten doch gute
Arbeit vor Ort"-Beteuerungen versandet, und wenn der
Strippenzieher-Mief der Listen-Taktierer und Semi-Professionals nicht
gelüftet wird ... dann sehe ich ehrlich gesagt schwarz.

Freundschaft!

Martin

Tuesday, June 9, 2009

SPD 2.0 - Das Manifest (Erster Entwurf)


Diskussionsbeitrag für die AG Sozialdemokraten in der SPD und die AG Digitale Linke

"Es wird gemeldet, dass erste Trümmer der SPD gefunden wurden: Teile der Tragfläche, Sitze, Koffer. Die große Frage ist, ob die Bergung des Flugschreibers gelingt."
Hier und jetzt ist die Zeit und die Gelegenheit für einen Neuanfang.

1. Die Sozialdemokratie und die dazugehörige Partei sind in der größten Krise ihrer 150jährigen Geschichte. In einer Existenzkrise. Und zwar nicht erst jetzt, sondern unterschwellig seit wenigstens einem Jahrzehnt. Seit klar geworden sind, dass die Emanzipations-Versprechen der goldenen 1970er Jahre uns nicht mehr über die nächsten Jahrzehnte tragen werden.

2. Die Sozialdemokratie ist eine Bewegung, eine Partei und ein Projekt mit tiefen historischen Wurzeln.

Die soziale Bewegung ist seit Jahrzehnten erstarrt.

Die Partei ist eine Potemkinsche Fassade (und in Bayern oft nur eine Ruine).

Die Basis, um die SPD neu aufzubauen, ist das sozialdemokratische Projekt: Sozialer Fortschritt, Bildung und Emanzipation für alle. Nicht für partikulare Gruppen, sondern für den Großen Strom unserer Gesellschaft.

3. Die Sozialdemokratie als Partei ist nicht nur in weiten Teilen Bayerns bereits ausgelöscht. Gottseidank ist die Sozialdemokratie mehr als eine Partei.

Wer sind die verbliebenen Mitglieder der Partei?

3.1 Der Partei-Apparat

Die SPD als Partei, nicht als Projekt und (Rest-)Bewegung, besteht aus Vereinsmeiern, Apparatschiks und Funktionären, die in ihrer ganz eigenen autistischen Welt versunken sind. Seit 30 Jahren besteht die nicht mehr aus großen gesellschaftlichen Zukunftsentwürfen, sondern aus Zehntelprozent-Punkten: Zehntelprozentpunkte bei Sozialleistungen hier, Zehntelprozentpunkte bei Umfragen dort.
Nur dass es jetzt plötzlich um Zig-Prozente geht: Um den Zusammenbruch des Wirtschaftssystems, das aus dem Wachstum heraus Wohlstand und Emanzipation für alle bezahlte. Es wird die Milliarden schlicht nicht mehr geben, mit denen man "die Bildung", "die Renten" und die tariflich voll abgesicherten Arbeitsplätze in sterbenden Wirtschaftszweigen bezahlen kann.

Die Idee, in dieser Lage könnte die SPD als bloßer Gegenpol zu den Marktradikalen weite r bestehen, ist falsch. Sie geht davon aus, dass wir eine Entweder/Oder-Demokratie haben, die zu 90% auf einem gesellschaftlichen Konsens beruht. Das war ja das allgemeine Gefühl der letzten 35 Jahre: Obwohl Kohl regierte, war die BRD ist eigentlich als Ganze sozialdemokratisch geworden.

(Wahrscheinlich regierte Kohl genau deshalb. Das ist Dialektik, Genossen, weiß noch jemand, was das ist?)

Und weil es dann in Wahrheit um Zukunfts- und Grundsatzfragen nicht ging, geht es dann immer nur um Feinheiten: Bestandswahrung gegen "soziale Gerechtigkeit", schlechtere Aktenbearbeiter gegen bessere Aktenbearbeiter, geschicktere Spin-Doktoren gegen ungeschicktere. Merkel vs. Müntefering ist die Schwundstufe diese alten Politik.

Das ist vorbei. Endgültig.

3. Der lebendige Kern

Der lebendige Kern der Sozialdemokratie besteht immer noch aus den Resten der großen Aufbruchsbewegung der 1970er Jahre ("Willy wählen"): Graue Panther, von denen viele immer noch mehr Zukunftsoffenheit haben als jedes der in den Wind geschriebenen Parteiprogramme seit Godesberg.

Ja, es gibt eine Handvoll Mittelalte und Junge, die diesen Geist über die Jahrzehnte weitergetragen haben. Aber seien wir ehrlich: Wir sind ein verlorenes und zunehmend demoralisiertes Häufchen. Wir haben keine Anziehungskraft mehr nach außen. Wir sind kein Club mehr, zu dem andere gern gehören würden.

Wir stehen nicht mehr für "den Fortschritt", weil wir selbst desorientiert sind. Und das ist das Problem: Wenn es keine Ideen von sozialem Fortschritt mehr gibt, keinen Schwung, der vorwärtstreibt, werden eben die Konservativen gewählt, wenn auch ohne jede Begeisterung. (Auch die Siege der CDU/CSU sind Pyrrhus-Siege.)

4. Was wir brauchen

Wir brauchen eine Neudefinition der Fortschritts-Vision der 1970er Jahre für die Dienstleistungsgesellschaft, für die Informationsgesellschaft, für die Gesellschaft der zerfallenden alten Milieus und der vogelfreien Ich AGs.

Zugespitzt gesagt: Wir müssen die SPD für die digitale Ära neu erfinden.
So wie der Journalismus sich neu erfinden muss, die Gewerkschaften und sogar der Finanzkapitalismus. So wie fast alle Teile unseres gesellschaftlichen Systems.

Jetzt gerade stehen im größten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbruch seit dem Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und antiautoritärer Pop-Kultur. Für den letzten Umbruch, den Umbruch von 1955 - 1969, stand das Godesberger Programm, die goldene Zeit waren die "Willy Wählen"-Jahre. Für den jetzigen Umbruch gibt es noch kein Programm. Nicht auf dem Papier (das wäre nicht so schlimm), aber vor allem eben auch nicht in den Köpfen. Wenn die deutsche Sozialdemokratie keine Fortschritts-Idee mehr entwickeln kann, ist sie tot.

Glücklicher Weise ist und war die SPD immer viel mehr als eine Partei: Sie war eine Bewegung, die sich immer wieder selbst erneuerte: Nach der Krise der Weimarar Republik wurden die alten Kämpen der wilhelminischen Zeit genauso empfunden, wie wir jetzt unsere Parteioberen empfinden. Carlo Schmitt, Willy Brandt und viele andere wichen aus in dynamische, jugendbewegte Splitterparteien.

Nur dass es heute auch kein vitales sozialdemokratisches Milieu neben der Partei mehr gibt.


5. Gibt es Hoffnung?

Es gibt Hoffnung, aus drei Gründen:

5.1 Die Sozialdemokratie als Projekt ist nicht überholt. Sie hat nicht einmal Konkurrenz im politischen Feld:

Die leicht verspießerten Öko-Bürgerlichen sind keine vollgültige Alternative, weil sie trotz (bzw. eben mit Hilfe) ihrer Globalen Krisenrhetorik ein allzu gemütliches Wohlfühl-Milieu pflegen. (Aber sie sind Fleisch vom Fleisch der Sozialdemokratie, verstanden als umfassendes Projekt).

Die CDU/CSU hat keine Vision. Sie braucht auch keine, um die nächsten Wahlen zu "gewinnen". Wer den Status Quo erhalten will, wird sich dorthin flüchten. In Wahrheit ist auch sie in einer schweren Krise, denn unterschwellig gab es eben dort doch auch ein Fortschrittsversprechen: Die CDU/CSU war Eigenheim-plus-Mercedes/BMW/Audi. Soziale Marktwirtschaft für die, die glauben, dass sie etwas zu verteidigen haben. Auch das ist vorbei.

Die FDP ist die Partei der Egoisten und Besserverdienenden, nicht sonst. Vielleicht sind das sogar 18%. Die FDP ist als Bündnispartner unbrauchbar.

"Die Linken" sind ebenso konzeptlos wie die SPD (als etablierte Partei). Wenn es ihr nicht gelingt, den radikaleren Sozialismus neu zu erfinden, nämlich als Fortschrittsbewegung, wird sie das bleiben, was sie ist: Ein Sammelbecken. Die Resterampe für Linke Nostalgie und Modernisierungsverlierer.

Und die extreme Rechte hat, wie es aussieht, auch keine Chance. In Österreich ist es ihr gelungen, als "jung" und "modern" daherzukommen. In Deutschland bestehen dafür keine Aussichten. Es kann größere rechtspopulistische Wellen geben, aber eine große politische Bewegung ist nicht zu sehen.

5.2 Die Sozialdemokratie als Projekt bezeichnet genau die große Leerstelle unserer Gesellschaft.

Wir müssen nun aus dem Projekt eine Bewegung machen. Früher ging das nur über die Arbeiterkulturvereine und das Gewerkschaftsmilieu, dann über die Diskussionszirkel der linken Akademiker. Beides gibt es nicht mehr.

5.3 Die Lösung ist das Internet: Die Selbstorganisation der Unzufriedenen. Geplante Schneeball- und Netzwerk-Effekte. Ein Netzwerk, dass nicht in der Partei agiert, aber auch nicht gegen sie, sondern neben der Partei.

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